Harmonik
Peter Neubäcker lernte ich vor 1989 kennen. Er ist Musiker, Instrumentenbauer, Heilpraktiker, Astrologe und natürlich Harmoniker. Peter entwickelt Bearbeitungstools für Musiksoftware, Arbeitsmittel für die Astrologie und graphische Darstellungen für die Harmonik, welche er in seinem eigenen Verlag herausgibt. Als Autor eines Beitrages über Rudolf Stössel * (Rudolf Stössel: Einblicke - Rückblicke – Lichtblicke) gibt er in dessen Einleitung eine wunderbare Übersicht der Geschichte der Harmonik ab. Im folgenden Abschnitt “Zeitreise in die Harmonik” (kursiv) habe ich, mit freundlicher Genehmigung, Peters Artikel neu verfasst und ergänzt.
* Stössel, Rudolf: Einblicke - Rückblicke – Lichtblicke. Verlag E. Löpfe-Benz AG
Zeitreise in die Harmonik
Die Schöpfungsgeschichten vieler Völker zeugen von einem Zusammenhang der Musik mit der Entstehungsgeschichte der Welt. Das magisch-mystische Empfinden dieser alten Kulturen wollte nun durch das keimende rationale Bewusstsein vor zweieinhalbtausend Jahren verstanden werden, nämlich wie es um diese Strukturen beschaffen war. Ein Antrieb in Griechenland war Pythagoras. Sein mündlich tradiertes Wissen beeinflusste die folgende Zeit so sehr, dass sich sein Weltbild unter anderem in Platos Dialogen mit den Pythagoreern und den Aufzeichnungen von Aristoteles erschliessen lässt: Die Weltschöpfung wird gleichzeitig als musikalischer und mathematischer Vorgang dargestellt. Diese Kosmologie wurde nicht einfach durch Glaubenssätze gelehrt. Pythagoras wird es zugeschrieben, durch die Einführung des Monochords ein Versuchsinstrument geschaffen zu haben, das die Zusammenhänge von Intervallen und Zahlen auf geisteswissenschaftlicher Basis erforschte und philosophisch reflektierte: Die innere Welt des Empfindens (Ton, Klang) verband sich mit der äusseren Welt des Messens und Rechnens - die Verbindung des Qualitativen mit dem Quantitativen.
Bis heute spricht man von der pythagoreischen Harmonik, deren griechische Wurzel „Harmotto“ fügen oder ordnen bedeutet. Der Kosmos, gleichbedeutend mit Ordnung oder Schmuck, bezeichnete nach Pythagoras die Welt, die den Mathematikern und Philosophen, welche einst ein und dasselbe waren, fortan als wichtige Grundlage ihres Forschens und Denkens diente. Euklid schrieb ein Buch über die Musik und deren mathematische Grundlagen. Ptolemäus beschreibt die Arbeit mit dem Monochord. Über das ganze Altertum und Mittelalter blieb die pythagoreische Weltsicht lebendig. Die Vorstellung der harmonia mundi und der Sphärenharmonie wurden feste Bestandteile eines Vorstellungsgebäudes, doch auf welche Weise diese Harmonie in der “äusseren Welt” den Bewegungen der Planeten entsprach, fragte niemand. Während mehrere Naturvölker, wie zum Beispiel die Dogon, bereits genaueste Darstellungen der Plejaden aufzeichneten, begann man in der Renaissance mit der Erforschung der “äusseren Welt”.
Johannes Kepler war für die Denkweise der neuen Harmonik repräsentativ: das Erkennen von gestalthaften Zusammenhängen war dem Erkennen von funktionalen Zusammenhängen vorrangig. Seinem integrativen Denken verdanken wir zahlreiche Erkenntnisse, deren Gültigkeit bis in unsere heutige Zeit hinein wirken.
Nach Kepler, der ein äusserst religiöser Mensch war, trat in der Naturforschung das spezialisierte und mechanistische Denken seinen Siegeszug an. Obschon viele Forscher interdisziplinär wirkten, findet man in der heutigen Wissenschaft ihr Wirken reduziert auf wenige Lehrsätze, zum Beispiel wurde Newtons Werk auf das der Physik reduziert. Dass Newton weit mehr über Theologie und Philosophie schrieb, bleibt weitgehend unbekannt.
Der Einfluss des pythagoreischen Denkens setzte sich stärker in der Philosophie fort. Leibniz und Schopenhauer erläutern in ihren Werken die Musik als unbewusste und verborgene arithmetische Übung der Seele, als geheime metaphysische Übung des seines Philosophierens unbewussten Geistes.
Als im neunzehnten Jahrhundert die materialistische Wissenschaft die pythagoreische Harmonik als nicht ernst zu nehmend abtat, erschien 1868 das Werk “Die harmonikale Symbolik des Altertums” von Albert von Thimus. Einer seiner Verdienste ist die Findung des Lambdomas, eines harmonikalen Diagramms, dessen Struktur eine reiche und tiefe Symbolik enthält, aus welcher bis heute immer neue Erkenntnisse geschöpft werden.
Interdisziplinär Wirken
Aus der Geschichte der Harmonik ist ersichtlich, wie vor zweieinhalbtausend Jahren das rationelle Denken integriert wurde. Weiter haben wir erfahren, wie die innere Welt des Empfindens (Ton, Klang) sich mit der äusseren Welt des Messens und Rechnens verbinden lässt, das Qualitative mit dem Quantitativen. Die subjektive menschliche Erfahrung (qualitativ) und das geschulte Rationale (quantitativ) ergänzten und befruchteten sich. Interdisziplinäres Wirken war die Folge.
Persönlichkeiten unserer Zeit
Viele Disziplinen erscheinen auf den ersten Blick oft ambivalent, in sich widersprüchlich, wie etwa in der Frage: Was hat Musik mit Mathematik zu tun? Betrachten wir Persönlichkeiten, welche ihr Leben interdisziplinärem Wirken widmen, stellen wir Gemeinsamkeiten fest. Eine davon besteht darin, dass der Mensch sich als sein eigenes Instrument und Werkzeug mit einbringt: seine Gefühle und Emotionen, seine Sinne, Hingabe, sein Verstand, Wille und Wissen, all seine Taten, Erfahrungen und Fähigkeiten. Der Mensch inklusive seiner Subjektivität. Der Mensch als sein eigener Kosmos.
In der Folge möchte ich nun eine kleine Auswahl von Menschen erwähnen, die in ihrem ganzen Menschsein und ihrem integrativen, interdisziplinären Wirken eine wertvolle Bereicherung zur heutigen materialistischen Wissenschaft bildeten - und heute noch bilden.
Hans Kayser, gelernter Musiker, beschäftigte sich früh mit Philosophie und Mystik. Keplers Gedankenwelt war der entscheidende Anstoss für sein zukünftiges Werk, welchem er sein Leben widmete. Kayser erarbeitete sich in unvergleichbarer Weise ein Wissen, indem er seine harmonikalen Forschungen in die Chemie, die Astronomie, die organische Natur und die Architektur ausdehnte. Sein Lehrbuch der Harmonik gilt heute als Standardwerk. In seinem Buch Akroasis gibt Kayser eine allgemein verständliche Einführung in die Gedankenwelt der Harmonik und viele “praktische” Anregungen: ...An Stelle von nur “Spezialisten” müssten in Zukunft die Universitäten “Universalisten” ausbilden. ...
Was heute an harmonikaler Forschung geleistet wird, hat seine Anregungen zu einem grossen Teil der Arbeit Kaysers zu verdanken.
Viktor Schauberger, seines Zeichens Naturbeobachter und Wasserforscher, ermutigt in seinem Werk die Menschen, den Unsinn unserer Arbeit zu erkennen: “Die Mitwelt, die, mitgerissen von dem Getriebe der Zeit und verbildet durch Überspezialisierung, die Einzelheiten nicht mehr wahrnehmen kann, aus denen sich das gesamte Leben in der Natur aufbaut und erhält”.
Emma Kunz, endlich eine erste Frau, die in diesem Artikel Eingang findet, wirkte als Forscherin, Heilpraktikerin und Künstlerin. Sie erforschte die Fragen des Lebens und deren Zusammenhänge. Ihr tiefes Wissen der energetischen und geistigen Kräfte ermöglichte ihr, Menschen zu heilen. Sie hielt ihre Erkenntnisse in grossen Zeichnungen auf Millimeterpapier fest, deren Bedeutung weit mehr als eine ästhetische ist. Ihr erstes, 1953 im Eigenverlag erschienenes Buch über ihr Bilderwerk, trägt den Titel: Das Wunder schöpferischer Offenbarung. Gestaltung und Form als Mass, Rhythmus, Symbol und Wandlung von Zahl und Prinzip. Dieser Titel, in Zusammenschau ihrer Werke, erschliesst dem offenen Betrachter Zusammenhänge jenseits der Analytik. Emma Kunz vermied es meistens, ihr Werk zu erläutern. Kurz bemerkte sie: “Mein Bilderwerk ist für das 21. Jahrhundert bestimmt”.
R. Buckminster Fuller, Ingenieur, Poet, Designer, Denker, Forscher, Künstler und Menschenfreund, war überzeugt, dass Spezialistentum mehr Probleme schafft als löst. Er entwickelte seine Konzepte von einer Vision des Ganzen her und verknüpfte auf einzigartige Weise Architektur, Geometrie, Engineering, Naturforschung und Anthropologie.
“Denke global - handle lokal”, “Raumschiff Erde” und “Synergetik” sind Schlagworte unserer Zeit und gehen direkt auf Buckminster Fuller zurück. Er lebte vor, dass technischer Fortschritt allen Menschen helfen soll und kann.
Die zweite Frau, welche ich in dieser interdisziplinären Runde vorstellen will, ist Maria Renold. Sie studierte, vertiefte und erweiterte die pythagoreische Harmonik. In jahrzehntelanger Arbeit erläuterte und durchleuchtete sie Töne, Intervalle, Tonleitern, Kammertöne und deren Eigenqualitäten und Ethos. Sie überprüfte ihre Vermutungen mit Tausenden von Menschen, die ihre Arbeit nach eigenen Angaben klar bestätigten. Maria Renold entwickelte aus ihren Erkenntnissen eine neuartige Einstimm-Methode, welche sie die Zwölf-Quintentöne-Leiter nannte.
Ken Wilber, einen bedeutenden Bewusstseinsforscher, möchte ich deshalb erwähnen, weil er Aspekte thematisiert, wofür die heutige Zeit offensichtlich reif scheint. Im Jahr 1975 spricht Wilber in der uneingeschränkten Überzeugung von einer „Psychologia Perennis“ (ewige Psychologie) in der gleichnamigen Veröffentlichung: Ausschliesslich auf diese Weise könne sich eine Vision des Menschen entfalten, die dem Reichtum der menschlichen Erfahrung gerecht werden könne, während im Gegensatz dazu die so genannte “wissenschaftliche” materialistische Sichtweise in Bezug auf den Menschen in ihrem Wesen “unwissenschaftlich” sei, da sie die unbestreitbare Tatsache der Subjektivität der menschlichen Erfahrung verneine.
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Die kleine Auswahl der oben porträtierten Menschen repräsentiert einen neuen erkennbaren Impuls durch ihr Wirken in der heutigen Zeit. Kritik an der vorherrschenden materialistisch mechanistischen Wissenschaft und deren Begrenztheit durch Überspezialisierung wird zum Ausdruck gebracht. Allen gemein ist ihr interdisziplinäres, integratives Wirken, welches die Natur und die Menschen als Ganzes mit einbezieht.
Druckerschwärze und darüber hinaus
Wie könnte heute das Spezialistentum mit interdisziplinärem und integrativem Wirken in Einklang gebracht werden? Anhand eines einfachen Beispiels will ich in der Folge versuchen, einige hilfreiche Aspekte zu erörtern.
Materialistisch betrachtet, besteht ein Buch aus Zellulose, Bindemittel und Druckerschwärze. Unser Analphabet Jon, den wir jetzt begleiten wollen, ist in der Lage, die Form der Schriftzeichen mit Papier und Bleistift zu kopieren. Mit etwas Übung wird Jon ein Buch mittels einer Schreibmaschine sogar im Zehnfingersystem schnell kopieren können. Erlernt unser Analphabet Jon nun die Sprache, deren Bedeutung und ihre Darstellung in Buchstaben, Worten und Sätzen, ist es ihm in der Folge möglich, den Inhalt des Buchtextes zu assoziieren. Ein Verständnis erschliesst sich ihm aus der anfänglichen “Druckerschwärze”. Jon ist nun des Lesens und Schreibens fähig. Das Erlernen der Rechtschreibung wird ihm ermöglichen, Fehler in Texten zu erkennen und diese beim Kopieren allenfalls nach gängiger Orthographie zu berichtigen.
Nun will Jon mehr: Er will selber Texte schreiben. Jon beschreibt, wie es gestern schneite. “Es schneit. Alles ist weiss” schreibt Jon. Das ist aber noch lange nicht alles, das wird der Sache nicht gerecht, denkt sich der junge Schriftsteller. Wieso? Er will sich mitteilen und seinen Gefühlen und Emotionen Ausdruck verleihen. Über das sinnliche Erlebnis mit dem Schnee berichten. Über die Stille, die einkehrt, wenn der Schnee gefallen ist, über die Schönheit seines Anblickes und die Verwandlung der Umgebung. Wie will Jon sein Erlebnis beschreiben? Das Pulsieren der Wörter, der Rhythmus der Sätze helfen ihm eine Struktur zu finden. Plötzlich beginnen sich die Wörter zu reimen. Jon dichtet! Sein Gedicht soll die Wirkung all dessen zum Ausdruck bringen, was der erste Schnee in ihm ausgelöst hat, wie auch die Ruhe, welche er in sich vernahm. Inspiriert schöpft unser Dichter neue Wörter: Wolkenflut, Flockentanz, Glitzerglut. In Wörter gebannte Gefühle. Sein Gedicht versetzt ihn zurück ins Ereignis. Der Flockenzauber wirkt. Vergessen ist die Druckerschwärze, das Zehnfingersystem und die Grammatik. Die Technik, der Verstand und der Wille dienen Jons Gefühlen und Emotionen dazu, Gestalt anzunehmen.
So banal dieses Beispiel ist, vermag es dennoch einige wichtige Zusammenhänge zu veranschaulichen, die in einem interdisziplinären Wirken zum Tragen kommen.
So wie sich die Musik in Pulsationen, Metren, Rhythmen, Tönen, Melodien, Harmonien, Geräuschen, Klängen und Formen analysieren lässt, erschliesst sich dem hörenden Menschen das Wesentliche erst dann, wenn die Musik selbst als Ganzes erklingt, wenn der Mensch mit all seinen Gefühlen und Emotionen sich auf deren Wesenhaftigkeit einlassen kann und will. Das Gedicht über den Schnee lässt uns in die Seelenwelt des Autors hineintauchen und unsere eigenen Erlebnisse mit Schnee anklingen. Imaginäre Bilder können entstehen, selbst dann, wenn ich aus einem tropischen Land stamme und keinerlei Erlebnisse je mit Schnee hatte.
Jon durchlief eine einfache, nachvollziehbare Entwicklung. Was passierte in ihm, als er die “Druckerschwärze” zu lesen erlernte, die Zeichen eine Bedeutung erhielten und durch das eigene Schreiben später gar eine emotionelle Dimension erreichten?
In der Harmonik ist es möglich, die Gesetzmässigkeiten der inneren Welt des Empfindens mit der äusseren Welt des Messens und Rechnens in Verbindung zu bringen. Eine neue Dimension eröffnet sich, diejenige des Verstehens und Empfindens gleichzeitig, als entstünde ein neues Sinnesorgan, das Qualitatives und Quantitatives als Ganzes wahrnehmen lässt und sich dem Menschen offenbart. Dieses neue Verständnis basiert nicht auf einer Analogie; die Ambivalenz der verschiedenen Disziplinen ist überwunden, ein neuer Kosmos eröffnet sich.
Was war der Auslöser, als Jon noch als Analphabet die Zeichen zu kopieren begann? Warum wollte er lesen lernen und welchem Impuls ist er als Dichter gefolgt?
Der erste Schnee
Sie taumeln im Winde
und gleiten zu Boden
leichte weisse Wolkenflut
Sie wandeln das Antlitz
und bannen die Sinne
lichter kühler Flockentanz
Sie formen die Stille
und weben Kristalle
lausche dieser Glitzerglut
Hans Jon Ries, 2014